Mental Health
in akuten und chronischen Krisensituationen


Chair: Prof. Dr. med. Daniela Hubl,
Chefärztin Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Bern


3. November 2022

Abstract Prof. Dr. med. Frank Urbaniok

Verschwörungstheorien und Parallelwelten als Bedrohung offener Gesellschaften: Soll sich die Psychiatrie positionieren? 

Anders als in der kulturhistorischen Tradition angenommen besteht der Zweck der menschlichen Vernunft nicht darin, die Wirklichkeit differenziert und sachgerecht zu erkennen. Aus evolutionärer Sicht war die Investition in die Weiterentwicklung der Vernunft beim Homo sapiens allein darauf ausgerichtet, die Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit der Art zu verbessern. Das hat Konsequenzen. Denn aufgrund dieser Zielsetzung sind in die menschliche Vernunft Mechanismen integriert, die sich aus evolutionärer Perspektive seit Millionen von Jahren bewährt haben, die aber zu selektiven und verzerrten Wahrnehmungen und Beurteilungen führen. Denn aus evolutionärer Sicht gilt das Prinzip: Besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig.

Diese Grunddisposition des Homo sapiens ist individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Sie hat aber weitreichende Folgen, die sich unter anderem in Gesellschaft, Politik, Ökonomie und auch generell in der Wissenschaft beobachten lassen.

Eine Folge besteht darin, polarisierte Wahrnehmungen (schwarz oder weiss, entweder -oder, Freund oder Feind) zu bevorzugen und subjektiv stimmige Überzeugungen entgegen widersprechenden Realitäten und Fakten aufrechtzuerhalten.

Dieser Mechanismus spielt politisch bei Populisten und Extremisten ebenso eine Rolle wie bei sogenannten Verschwörungstheoretikern. Man schätzt, dass ca. 30% der Bevölkerung in besonderer Weise anfällig für solche verzerrten und nur schwer korrigierbaren Überzeugungen sind. Dieses Thema ist aktuell von grosser Bedeutung und eine der Ursachen dafür, dass das Modell offener Gesellschaften weltweit seit Jahren unter Druck steht.

Für die Psychiatrie sind die Kenntnis und die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Phänomenen deswegen relevant, weil gesellschaftliche Strömungen das Fach stark beeinflussen. Zudem wird die Psychiatrie mit gesellschaftlichen Entwicklungen durch Patienten, aber auch durch gesellschaftliche Erwartungen direkt konfrontiert. Darüberhinausgehend ist die Psychiatrie in besonderer Weise selbst anfällig für die hier skizzierten Mechanismen. So gibt es die problematische Tendenz, spekulative Konzepte oder gar Verschwörungstheorien im engeren Sinne auf Patienten zu projizieren. Das kann zu Behandlungsfehlern mit zum Teil fatalen Folgen führen.

Im Vortrag wird daher die These vertreten, dass sich die Psychiatrie in Zukunft verstärkt mit den angesprochenen Phänomenen konfrontiert sieht und sich hier positionieren muss.